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Paul war eine Spiegelung seines Vaters, Herzog Letos des Gerechten. Ich jedoch bin nicht nur eine Spiegelung unserer Mutter Jessica, sondern aller Mütter, die vor mir kamen. Das gewaltige Reservoir der Weitergehenden Erinnerungen macht mich zur Nutznießerin großer Weisheit.
St. Alia-von-den-Messern
Jessica hatte das Gefühl, dass sie Paul auf viel privatere Weise ihre Ehrerbietung erweisen sollte. Das Bedürfnis hatte nichts mit den Bene Gesserit oder mit der großen Politik zu tun, es war lediglich der Wunsch einer Mutter, sich von ihrem Sohn zu verabschieden. Dank Stilgar würde sie außerdem schon bald an einer traditionellen und geheimen Fremen-Andacht für Chani teilnehmen ... doch davon wusste Alia nichts.
Nach dem Frühstück sagte Jessica zu ihrer Tochter, dass sie Sietch Tabr besuchen wollte, um noch einmal den Ort zu sehen, von dem aus Paul in die Dünen hinausgegangen war, um seinen Körper dem Wüstenplaneten zu überlassen, während die Erinnerung an ihn fest in der Legende verankert blieb.
Alia lächelte ihr unsicher zu. Sie hatte den Gesichtsausdruck einer Tochter, die nach Anerkennung durch ihre Mutter strebte. Obwohl sie über eine Weisheit verfügte, die weit über ihr Alter hinausging, war Alia physisch eine Jugendliche, die sich noch an ihren Körper gewöhnen musste und die Welt gerade erst mit ihren eigenen Sinnen entdeckte. »Ich werde dich begleiten, Mutter. Diese Pilgerreise sollten wir gemeinsam unternehmen ... für Paul.«
Jessica erkannte, dass sie in erster Linie an sich selbst und ihren Sohn gedacht und Alia nur unzureichend berücksichtigt hatte. Habe ich meine Tochter häufiger missachtet, ohne dass es mir bewusst war? Jessica hatte Herzog Leto verloren und nun Paul – womit ihr nur noch Alia geblieben war. Jessica tadelte sich für ihre Geringschätzung und sagte dann: »Es würde mich freuen, wenn du mich begleitest.«
Schnell bereiteten sie alles für die inoffizielle Reise zum Sietch vor, da keine von beiden eine großangelegte Prozession samt Speichelleckern und jammernden Priestern daraus machen wollte. Nachdem die öffentliche Trauerfeier vorbei war, schien Alia das Bedürfnis ihrer Mutter nach Zurückgezogenheit zu verstehen. Vielleicht empfand das Mädchen sogar genauso.
Die beiden legten die einfachen Gewänder von Pilgern an, damit sie zu den öffentlichen Landeplätzen gehen konnten, ohne dass jemand auf sie aufmerksam wurde. Duncan wollte sie dort in Empfang nehmen, wo er für den Flug über die Wüste einen Ornithopter bereitgestellt hatte.
Als sie durch die Straßen von Arrakeen liefen, ließ Jessica alle Bilder und Geräusche auf sich einwirken. Sie spürte die lärmende Energie der Bevölkerung, wie all diese Gedanken und Seelen eine kollektive Kraft erzeugten, die die Menschheit vorantrieb. Hier waren sie und Alia nur irgendein Paar, Mutter und Tochter, nicht vom Rest der Menge zu unterscheiden. Sie fragte sich, wie viele von diesen Eltern Unbehagen in Gegenwart ihrer Kinder empfanden. Andere jugendliche Mädchen hatten völlig andere Sorgen als jene, die Alia so schwer auf der Seele lagen.
»Als ich erfuhr, dass du hierherkommst«, sagte das Mädchen plötzlich, »habe ich mich darauf gefreut, mit dir zu reden, deinen Rat zu hören. Paul war deine Meinung immer sehr wichtig, Mutter, und auch mir bedeutest du sehr viel. Aber ich weiß, dass du einige meiner ersten Entscheidungen als Regentin nicht gutheißt. Ich tue nur das, was ich für notwendig halte und von dem ich glaube, dass es auch Paul so gewollt hätte.«
Jessicas Antwort war unverbindlich. »Auch Paul hat Entscheidungen getroffen, die mir Sorgen machten.« Trotz ihrer Bedenken hinsichtlich der politischen Linie ihres Sohnes hatte sie schließlich verstanden, dass er tatsächlich ein viel größeres Bild sah, eine gewaltige Landschaft der Zeit und des Schicksals, durch die nur ein sehr dünner und tückischer Pfad führte. Er hatte eine furchtbare Bestimmung, die nur wenige andere begreifen konnten. Er hatte Recht gehabt und es mit solcher Sicherheit gewusst, dass die Missbilligung seiner Mutter ihn nicht im Geringsten hatte schwanken lassen. Im Nachhinein erkannte Jessica, dass Paul oft dieselben Dinge getan hatte, die sie nun Alia zum Vorwurf machte. Vielleicht hatte sie einen blinden Fleck, wenn es um ihre Tochter ging. »Ich mache mir Sorgen, als Mutter sowie als Mensch. Ich habe einfach Angst, dass du kurz davorstehst, von einem schmalen Grat abzurutschen und in den Abgrund zu stürzen.«
Alia antwortete mit unerschütterlichem Selbstvertrauen. »Ich habe einen festen Stand, und ich bin pragmatisch.«
»Und ich bin nicht daran interessiert, das Imperium zu regieren. Es muss keine Spannungen zwischen uns beiden geben.«
Alia lachte und legte eine Hand auf den Arm ihrer Mutter. »Natürlich gibt es Spannungen zwischen uns, weil wir uns viel zu ähnlich sind. Ich habe all deine Erinnerungen in mir.«
»Nur die Erinnerungen bis zum Moment deiner Geburt. Seitdem habe ich viel gelernt und mich sehr verändert.«
»Genau wie ich, Mutter. Genau wie ich.«
Am Rand des Raumhafens kamen sie an einem Basar vorbei, der anfangs nur ein behelfsmäßiges Lager gewesen war, wo Verkäufer ihre Waren deponiert und Stände aufgebaut hatten. Im Laufe der Jahre war er größer geworden und hatte sich zu einer festen Einrichtung in Arrakeen entwickelt. Polymerplanen dienten als künstliche Dächer und schützten die Pilger und Schnäppchenjäger vor der gnadenlosen Sonne. Große Ventilatoren saugten die Luft an und filterten jeden Tropfen vergeudeter Feuchtigkeit heraus.
Wahrsager saßen an Ständen, starrten auf kunstvoll gestaltete, farbenfrohe Karten und lasen aus dem erweiterten Arrakis-Tarot vor, das mit Illustrationen versehen war, die sogar jüngste Ereignisse und den Tod Muad'dibs darstellten. Die Karte, die den Blinden Mann zeigte, war besonders unheimlich. Jessica bemerkte, dass die meisten Verkäufer religiöse Ikonen, Reliquien und andere »heilige« Utensilien feilboten – ausnahmslos wertloser Tand, an dem sie zweifelhafte »Garantieurkunden« angebracht hatten.
»Dieser Mantel wurde von Muad'dib höchstpersönlich getragen!«, rief ein Mann und nannte dann einen Preis, dessen astronomische Höhe die Herkunft des Stücks »bewies«. Ein halbes Dutzend Verkäufer behauptete, den Original-Siegelring der Atreides zu besitzen, und beschimpften sich gegenseitig als Betrüger. Natürlich befand sich der echte Ring im Besitz von Alia und wurde sicher in der Zitadelle verwahrt. Andere Händler boten Gegenstände an, die angeblich von Muad'dib berührt, gesegnet oder – für die preisbewussteren Kunden – lediglich betrachtet worden waren, als wohnte bereits seinem Blick eine gewisse, wenn auch geringfügigere Heiligkeit inne.
Schon die Menge des Materials im Basar war absurd, und dies war nur eins von vielen Einkaufsvierteln. Sie verteilten sich zu Hunderten über ganz Arrakeen, und ähnliche Märkte waren auf zahllosen anderen Planeten aus dem Boden geschossen. Jessica schaute sich erschüttert um. »Mein Sohn ist zu einer Touristenattraktion geworden. Scharlatane benutzen ihn, um Kunden auszunutzen, die sich leicht – und bereitwillig – übers Ohr hauen lassen.«
Alias Gesicht nahm einen zornigen Ausdruck an. »Sie alle sind Betrüger, ausnahmslos. Wie können sie irgendeine ihrer Behauptungen beweisen? Sie schänden den Namen meines Bruders.«
»Ähnliches ist auf Caladan geschehen, noch zu Pauls Lebzeiten, während der schlimmsten Jahre seines Djihads. Als ich es nicht mehr ertrug, haben Gurney und ich sie vertrieben.«
»Also sollte ich hier dasselbe tun. Dieses Arrakis-Tarot war mir schon immer sehr unangenehm.« In Alias Kopf schienen Zahnräder ineinanderzugreifen, und sie grübelte einen Moment lang nach. »Kannst du mir einen Rat geben, wie sich das bewerkstelligen ließe?«
Dass ihre Tochter sie so offen um Hilfe bat, besserte Jessicas Stimmung schlagartig. »Ja, aber später. Im Augenblick sind wir auf dem Weg in die Wüste, um uns von meinem Sohn und deinem Bruder zu verabschieden. Jetzt ist nicht der richtige Moment für politische Entscheidungen.«
Sie legten den Rest des Weges bis zum Landeplatz schweigend zurück, bis sie bei Duncan ankamen, der neben einem Ornithopter auf sie wartete, jung und gesund in einer tadellosen Uniform, die den Eindruck erweckte, als hätte er einen Zeitsprung aus der Vergangenheit in die Gegenwart gemacht.
Nachdem sie am fernen Sietch gelandet waren, stand Jessica beim Eingang und blickte auf die Wüste hinaus. »Dies ist der Ort, wo meine Enkelkinder geboren wurden. Und wo Chani starb.«
Duncans Gesicht zeigte einen seltsam beunruhigten Ausdruck, statt des entrückten Blicks eines Mentaten, der mit Berechnungen beschäftigt war. »Sietch Tabr ist auch der Ort, an dem ich versucht habe, Paul zu töten.«
»Und wo der Ghola Hayt wieder zu Duncan Idaho wurde.« Alia drehte sich zu ihm um und legte die Arme um ihn.
Ohne die beiden aufzufordern, sie zu begleiten, folgte Jessica dem gewundenen Pfad durch die Felsen und stieg bis zum Rand der Dünenszenerie hinab, zu den gewellten Kämmen und Abhängen aus goldenem Sand. Eine leichte Brise wehte, die von den Fremen als pastaza bezeichnet wurde, stark genug, um Sand und Staub aufzuwirbeln, doch ohne einen Sturm anzukündigen.
Jessica lief auf die weichen, warmen Dünen hinaus und hinterließ auffällige Fußspuren, als sie sich dem nächsten Kamm näherte. Sie blickte zum öden Horizont und stellte sich vor, wie sich diese Landschaft ungebrochen bis in die Unendlichkeit erstreckte. Sie schaute auf den unberührten Sand, bis die Helligkeit ihre Augen schmerzen ließ. Sie suchte nach Anzeichen von Paul, als könnte in diesem Moment eine einsame Silhouette aus der Wüste zurückkehren, nachdem sie ihre heilige Reise, ihre Hadsch zu Shai-Hulud beendet hatte.
Doch der ewige Wind und der Sand hatten seine Fußspuren restlos ausgelöscht. Die Wüste war leer ohne ihn.